Gedanken einer Zugfahrt
Eine Reise mit dem Zug ist heute kaum noch etwas Besonderes. Denn die Nahverkehrszüge gehören in unserer Zeit einfach dazu: ob als Verkehrsmittel zur Arbeit, einer Reise ins Nachbardorf zum Training oder sei es zum Einkaufen in die Großstadt.
Nun sitze ich doch in einer Regionalbahn, die ich ein Stück auf ihrem Weg nach Senftenberg begleite, aber in Berlin verlassen muss. Für etwas mehr als zwei Stunden werde ich von Bernburg über Dessau in die Bundeshauptstadt fahren. Genügend Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen.
So sehe ich entlang der Strecke leerstehende Häuser und überwucherte Gleise. Ich frage mich, wer einst dort lebte. War es ein Bahnwärter? Waldarbeiter, die jeden Tag einen Baum nach dem anderen fällten, um Platz für Getreide zu machen. Oder lebte in den Ruinen eine Familie, die das angrenzende Feld bestellte?
Verlorengegangene Geschichten
Gerne würde ich einen Blick in die abrissreifen Häuser werfen, deren Fenster zerschlagen und Dächer verfallen sind. Vielleicht gibt es noch ein Überbleibsel, ein Zeitungsausschnitt oder ein altes Foto. Und wenn nicht, warum bleiben nur die kahlen Mauern zurück?
Ich frage mich, wie viele Züge einst durch Brandenburg fuhren, wo heute Brombeergestrüpp die Bahnschwellen dominiert. Gab es hier gute Arbeit, die das auskommen der Familie sicherte? Bestimmt waren die Menschen geschäftig unterwegs.
Der Zug hält am Bahnhof „Borkheide“. Der Zug hält genau vor dem alten Gebäude, mein Sitzplatz am großen Panoramerfenster liegt gegenüber dem Eingang. Die Fenster sind mit Spannplatten zugenagelt, der Backsteinbau hat seinen Glanz verloren. Trostlos wirkt der Bahnhof und fehl am Platz.
Lost Places am Schienenrand
Nur wenige Stationen weiter der Bahnhof Michendorf. Auch dieser Bahnhof ist verlassen, aber der Ort wirkt weniger verlassen. Im Gegenteil: Farbenfrohe Reihenhäuser stehen Wand an Wand. Die An den Gleisen liegende Kleingartenanlage wirk gepflegt. Der gelbe Backsteinbahnhof wirkt wie der Beschützer des Dorfes.
Auf dem Weg nach Wilhelmshorst säumen Villen die Bahnlinie. Hier steckt Geld, ist mein erster Gedanken. Doch auch dieser Bahnhof ist verlassen Grau und leer, nur noch ein Schatten seiner ehemaligen Pracht.
Wechselbad der Gefühle
All diese Gedanken wechseln sich mit Gefühlen ab: Freude, Traurigkeit, Hoffnung, Trostlosigkeit. Welche Schicksale sind an den Bahnhöfen einst zusammengetroffen, welche Leben haben sich dort verändert, welche Pläne wurden geschmiedet, welche Reisen angetreten, fortgesetzt oder sogar abgebrochen?
Am Zielbahnhof angekommen denke ich kaum noch über die Bahnhöfe und leerstehenden Gebäude nach, die ich auf meiner Reise gesehen habe. Ich steige aus, muss mich orientieren. Verorten. Anschluss finden. Vergessen das gedachte. Wichtiger ist das hier und jetzt. Bis zur nächsten Reise.